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Provokation ersetzt Vernunft

Editorial der Ausgabe Juni 2020

Verehrte Leserinnen und Leser,

mit viel Disziplin, Zusammenhalt, einem funktionierenden Gesundheitssystem, klugen politischen Entscheidungen, aber auch mit schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen, ist es uns gelungen, die erste Welle der Covid19-Pandemie einigermaßen kontrolliert zu überstehen. Der Wunsch nach Lockerungen ist verständlich. Doch der dringende Appell an die Vernunft und Verantwortung des Einzelnen verpufft. Abstandsregeln und Maskenpflicht werden bewusst provozierend oder schlichtweg aus Einfalt und Dummheit massenweise ignoriert. Wer die Berliner Massenparty oder die touristische Erstürmung von Sylt oder anderen Inseln an Pfingsten als Gipfel der Unvernunft mit ansehen muss, kann nur zu einem Schluss kommen: Die zweite Welle der Pandemie ist unvermeidbar. Rechte und linke Extremisten unter dem Schutzschirm der Flügel ihnen nahestehender Parteien, im Verbund mit Verschwörungstheoretikern, missachten versammlungsrechtliche Auflagen, um vordergründig für ihre Freiheitsrechte zu demonstrieren. In Wirklichkeit sehen sie in der allgemeinen Verunsicherung eine willkommene Gelegenheit, krude Klassenkampfphantasien wieder auszuleben. „Großfamilien“ oder Mobs „erlebnisorientierter Kinder und Jugendlicher“ haben die Missachtung Corona-Regeln als weiteres Provokationsmittel entdeckt. Auf Twitter und schon seit März im englischen Sprachraum wird für jemanden, der die Warnungen zur allgemeinen Gesundheit und Sicherheit ignoriert, die Bezeichnung „Covidioten“ verwendet.

In diesen Zeiten wird auch die Globalisierung hinterfragt. Sie bleibt in vielen Bereichen aber unverzichtbar, beispielsweise in der internationalen Zusammenarbeit bei der Kriminalitätsbekämpfung, Wissenschaft und Forschung. So plädieren namhafte Autoren in einem Aufsatz für die Schaffung eines einheitlichen europäischen kriminalistischen Raumes. Fast unbemerkt vollzog sich ein Jubiläum, das einen Beitrag wert sein muss: Das Schengener Informationssystem (SIS), ein Garant für die Sicherheit in Europa, feiert seinen 25. Geburtstag. Aufsätze über dschihadistische Propaganda, terroristisches Cybergrooming, die Diagnostik und Risikobeurteilung extremistischer Gewalttäter, dschihadistische Anschlagsziele, -mittel und Risikoparameter sowie RADAR-iTE 2.0 als Instrument des polizeilichen Staatsschutzes bilden den thematischen Schwerpunkt dieser Ausgabe. Auch wenn die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus derzeit von anderen Themen überlagert wird, ist sie ungebrochen aktuell. Es folgt eine Kurzdiskussion über die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten eines freigesprochenen Täters und dem Stand der Umsetzung dieser rechtspolitischen Forderung aus dem Koalitionsvertrag der jetzigen Bundesregierung. In der Kriminalistik-Schweiz wird über die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung zu dortigen Cybercrime-Opfererfahrungen berichtet und im Campus-Teil werden das häufig noch tabuisierte Thema „Gewalt in der Pflege“ sowie „Gewalt in engen sozialen Beziehungen“ behandelt.

Noch ein Hinweis in eigener Sache: Ihre „Kriminalistik“ erscheint im 74. Jahrgang als unabhängige Zeitschrift für die kriminalistische Wissenschaft und Praxis. 1987 hatte der damalige Schriftleiter und Präsident des LKA Niedersachsen, Waldemar Burghard, seine Amtskollegen als Mitherausgeber gewinnen können. Diese ideelle Unterstützung wurde auch von seinen Nachfolgern weiter gepflegt. Verlag und Herausgeber sind nunmehr übereingekommen, aus Gründen der Unabhängigkeit und Ausgewogenheit auf die Herausgeberschaften künftig zu verzichten. Verlag und Redaktion bedanken sich für die langjährige und auch zukünftige Unterstützung bei der gemeinsamen Aufgabe der Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis in der Kriminalitätsbekämpfung.

Ihr
Bernd Fuchs
Chefredakteur


Verlag C.F. Müller

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