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Viraler Antisemitismus

Editorial der Ausgabe März 2020

Verehrte Leserinnen und Leser,

beim rechtsterroristischen Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019 war es nur einer gesicherten Eingangstür zu verdanken, dass nicht eine große Anzahl jüdischer Mitbürger beim Gebet am Jom Kippur, ihrem höchsten Feiertag, ermordet wurde. Der Attentäter nutzte das Internet vor und während der Tat, um sein Bekennerschreiben zu publizieren und seine Tat mittels Livestream zu übertragen. Aber auch unterhalb der Schwelle terroristischer Gewalt einen in erschreckender Weise antisemitische Stereotypen nicht nur Extremisten jeder Couleur, sondern sie öffnen weit darüber hinaus mit den medialen Verbreitungsmöglichkeiten Tür und Tor für hasserfüllte Kommunikation. „Der Hass sitzt bereits lange in den Köpfen der User, wenn diese ihn posten und verteilen. Es wäre also grundfalsch und fatal, den Hass 2.0 von der realen Alltagswelt abzukoppeln, denn er ist mitten in ihr…“ Zu dieser und vielen anderen Folgerungen kommt Monika Schwarz-Friesel in ihrer beachtenswerten Studie, die dieser Tage unter dem Titel „Judenhass im Internet“ in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen ist. Sie decken sich mit den Aussagen der Experten im Rahmen der BKA-Herbsttagung 2019, über die Karoline Weber zusammenfassend berichtet. Eine umfassende aktuelle Analyse des Antisemitismus von Extremisten in Deutschland und Europa aus Sicht der Verfassungsschutzbehörden nimmt Dr. Stefan Goertz vor. Auch er kommt zu der Bewertung, dass Antisemitismus keineswegs nur ein „Alleinstellungsmerkmal“ der rechtsextremistischen Szene ist. Neben einem „Alltagsziganismus“, den er bis weit in die soziale und politische Mitte der Gesellschaft hinein verbreitet sieht, ließen sich zudem im Islamismus, Linksextremismus und Ausländerextremismus (türkischer Rechtsextremismus) antisemitische Strategien und Inhalte erkennen. Ein zu lange tabuisiertes Thema ergänzt die zunehmende Fülle anzugehender gesellschaftlicher Probleme. Gebetsmühlenartig vorgetragene Leerformeln werden nicht genügen.

Die türkische Regierung hat in diesen Tagen die Vereinbarungen mit der Europäischen Union in der Flüchtlingsfrage aufgekündigt. Auch durch die im Frühjahr wieder verbesserte Wettersituation dürfte die Anzahl der Migranten, die nach Europa strömen, wieder ansteigen. Parallelen zur Flüchtlingskrise 2015/2016 drängen sich auf. Dr. Verena Schmied, Jana-Andrea Frommer und Dr. Gustav Zoller haben in dem BMBF-Forschungsprojekt Human+ die damaligen Abläufe untersucht und berichten über ihre Ergebnisse. Ob der notwendige Aufbau entsprechender Nachfolgestrukturen (trans)nationaler Zusammenarbeit und letztendlich eine bessere Vorbereitung auf ähnliche Einsatzlagen dieses Mal gelingt und Improvisation durch Professionalität ersetzt?

Die Umsetzung zweier EU-Richtlinien zum Jahreswechsel haben erhebliche Auswirkungen auf das polizeiliche Ermittlungsverfahren. Insbesondere ist das nunmehr geltende Recht der notwendigen Verteidigung mit erheblichen prozessualen Risiken, einschließlich etwaiger Beweisverwertungsverboten für Vernehmungen ohne ausreichenden Beistand eines Pflichtverteidigers, verbunden. Dies dürfte nicht nur Auswirkungen auf die Geständnisbereitschaft der Beschuldigten haben, sondern damit auch zu einer weiteren Steigerung der Bedeutung des Sachbeweises führen. Christoph Keller gibt zunächst in Teil 1 einen Überblick über die Problemstellungen und rechtlichen Herausforderungen für die Ermittlungsverfahren gegen Erwachsene. Teil 2 mit den Ermittlungsverfahren gegen Jugendliche folgt in der nächsten Ausgabe der Kriminalistik.

Ihr
Bernd Fuchs
Chefredakteur
 


Verlag C.F. Müller

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