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Ausgabe Februar 2021

Fachartikel

 

Cybercrime

Cyberkriminalistik: Ist die Polizei auf dem digitalen Auge blind?
Von Dr. Frank-Holger Acker

Digitale Kriminalitätstransparenz
Von der Durchbrechung der „Präventivwirkung des Nichtwissens“
Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger
 

Tathergangsanalyse

Der Tatort als Psychogramm des Täters?
Möglichkeiten und Grenzen der Tathergangsanalyse bei der Bearbeitung von Tötungsdelikten
Von Oliver Hintz
 

Sicherheitsgefühl

Sicherheit und Gewalt in Nordrhein-Westfalen
Ergebnisse einer Bevölkerungsbefragung in Nordrhein-Westfalen
Von Dr. Maike Meyer, Lena Dahlen und Mathias Berthold
 

Clankriminalität

Kontrolle von Autohöfen
Verbundeinsatz aus der Sicht von Angehörigen der Berliner Geldwäscheaufsicht
Von Büsra Sari und Jörg Lehnert
 

Islamistischer Terrorismus

Frauen im Kampf für das Kalifat: Propaganda im syrischen Bürgerkrieg
Von Dr. Eliane Ettmüller
 

Islamismus

Ausstieg und Deradikalisierung
Modelle, Befunde und Implikationen
Von Dr. Michail Logvinov
(Ausführliches Literaturverzeichnis als PDF)
 

Kriminalistik-Schweiz

Das 3D-Zentrum Zürich
Eine international einzigartige Zusammenarbeit zwischen Forensik und Rechtsmedizin
Von Dr. Till Sieberth, PD Dr. Lars Ebert, Martin Wermuth, Jörg Arnold und Erika Dobler

Mobile Betäubungsmittelanalytik/Grenzen und Möglichkeiten
Replik auf die Veröffentlichung „Drogen in fünf Sekunden qualitativ und quantitativ analysieren – Mythos oder Realität?“, Coppey/Esseiva, Kriminalistik, 12/2020, S. 759-763
Von Dr. Christian Bogdal, Markus Schläpfer und Jörg Arnold
 

 

 

Kriminalistik-Campus

 

Das Phänomen Polykriminalität bei Organisierter Kriminalität
Mexikanische Drogenkartelle im Visier
Von Anna Welbertz

Frauen im Rechtsextremismus
Von Verena Fiebig

 

 

Recht aktuell

 

Anforderungen an den Risikozusammenhang beim Raub mit Todesfolge

 

 

 

Literatur

 

Der Klassiker
Walder/Hansjakob/ Gundlach/Straub: Kriminalistisches Denken

 

 




 

 

Fachartikel

 

Cyberkriminalistik: Ist die Polizei auf dem digitalen Auge blind?
Von Frank-Holger Acker
Die dichotome Unterscheidung von Cybercrime im engeren und im weiteren Sinne erzeugt eine falsche Vorstellung davon, welche Bedeutung digitale Spuren für die polizeiliche Arbeit haben können. Auch wenn in der medialen Berichterstattung der Anstieg von im Internet begangenen Straftaten immer wieder thematisiert wird, stellen diese nicht den polizeilichen Alltag dar. Der Großteil der Delikte hat bezüglich der „Ws“ WAS WO WANN WIE WOMIT keinen Bezug zu Computertechnik. Die Täterin bzw. der Täter (WER) nutzt jedoch in praktisch jedem Fall (privat) das Internet. An diesem Punkt setzt die eigentliche kriminalistische Verwertung digitaler Spuren in den meisten potenziellen Anwendungsfällen an. Der folgende Artikel soll zunächst die Notwendigkeit für ein Verständnis und anschließend mit Hilfe eines einfachen Beispiels den potenziellen Nutzen einer Cyberkriminalistik verdeutlichen.

Digitale Kriminalitätstransparenz
Von der Durchbrechung der „Präventivwirkung des Nichtwissens“
Thomas-Gabriel Rüdiger
Jedes Rechtssystem ist darauf ausgelegt, dass nur eine begrenzte Anzahl an kriminellen Handlungen in einer Gesellschaft begangen wird. Dem Dunkelfeld kommt insofern eine stabilisierende Bedeutung zu. Nur wenn Kriminalität nicht vollkommen sichtbar ist, wird sie als etwas Ungewöhnliches wahrgenommen. Im Internet ist jedoch Kriminalität so sichtbar und präsent, dass sie teilweise nicht mehr als etwas Ungewöhnliches wahrgenommen wird. Kriminalität durchbricht im Netz daher in Ansätzen die von Popitz beschriebene „Präventivwirkung des Nichtwissens“ und macht einen großen Teil des Dunkelfeldes für die Nutzer sichtbar und damit transparent. Eine Reaktion hierauf ist nur durch eine grundlegende neue Sicherheitsstrategie für einen globalen digitalen Raum denkbar.

Der Tatort als Psychogramm des Täters?
Möglichkeiten und Grenzen der Tathergangsanalyse bei der Bearbeitung von Tötungsdelikten
Von Oliver Hintz
Der Tatort ist in den meisten Fällen Träger von Spuren der Tat, die für das kriminalistische Erkenntnis- und Beweisverfahren über das Tatgeschehen und die Täterschaft im Allgemeinen von großer Bedeutung sind. Die Tathergangsanalyse stellt aufgrund ihrer Systematik eine effektive Möglichkeit dar, aus den zunächst ungeordneten Tatortinformationen ermittlungsleitende Hypothesen zu bilden.

Sicherheit und Gewalt in Nordrhein-Westfalen
Ergebnisse einer Bevölkerungsbefragung in Nordrhein-Westfalen
Von Maike Meyer, Lena Dahlen und Mathias Berthold
Die Kriminalistisch-Kriminologische Forschungsstelle (KKF) des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen (LKA NRW) führte im Auftrag des Ministeriums des Innern des Landes Nordrhein- Westfalen und des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen die Studie „Sicherheit und Gewalt in Nordrhein-Westfalen“ durch. Im Rahmen der Studie wurden im Jahr 2019 insgesamt rund 60.000 zufällig ausgewählte nordrhein-westfälische Bürgerinnen und Bürger ab 16 Jahren schriftlich-postalisch zu ihrem Sicherheitsgefühl, ihren Erfahrungen mit Gewalt, ihrem Anzeigeverhalten sowie ihrer Kenntnis und der Inanspruchnahme von Hilfe- und Unterstützungsangeboten für Gewaltbetroffene befragt. Die Ergebnisse der Studie wurden im November 2020 in einem umfangreichen Forschungsbericht veröffentlicht (Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen 2020). Ausgewählte Befunde werden in diesem Beitrag überblicksartig dargelegt.

Kontrolle von Autohöfen
Verbundeinsatz aus der Sicht von Angehörigen der Berliner Geldwäscheaufsicht
Von Büsra Sari und Jörg Lehnert
Der Artikel beleuchtet eine weitere Facette im Kampf gegen kriminellen Clans durch Anwendung der anlasslosen Betretungs- und Befragungsrechte. Bislang standen Shisha-Bars und Spielhallen im Fokus der Behörden. Nunmehr geht es auch um weiter Orte, wo Clankriminalität vermutet wird. Zu solchen Örtlichkeiten zählen Autohöfe. Berliner Polizei und Ordnungsbehörden kontrollierten Anfang November 2020 einen Autohof im Rahmen eines Verbundeinsatzes. Auf solchen Autohöfen gibt es eine Reihe rechtlicher und praktischer Probleme. Der Artikel beleuchtet die Vorbereitung und Durchführung dieses Einsatzes sowie die besonderen Probleme solcher Örtlichkeiten (unklare Strukturen, unkooperative Gewerbetreibende, fehlende Sprachkenntnisse, Widerstandspotential des polizeilichen Gegenübers). Dieser Verbundeinsatz verschiedener Polizeidienststellen (u. a. Schutzpolizei und Gewerbeaußendienst), der Ordnungsämter und der Geldwäscheaufsicht hat Clanmitgliedern und ihrem Umfeld gezeigt, dass es keine kontrollfreien Bereiche mehr gibt.

Frauen im Kampf für das Kalifat: Propaganda im syrischen Bürgerkrieg
Von Eliane Ettmüller
Frauen beteiligen sich aktiv an der Erstellung und Verbreitung islamistischer Propaganda. Sie verstehen sich nicht als zweitrangiges Geschlecht, sondern verteidigen aktiv eine geschlechtersegregierte Gesellschaftsordnung, die sie in ihrer Rolle als Ehefrauen und Mütter feiert. Gleichzeitig rufen sie ihre Männer zu den Waffen, erziehen ihre Kinder als Kämpfer für den Glauben und werben für den Krieg gegen die Ungläubigen. Basierend auf der Analyse von Dokumenten, die mutmaßlich von Frauen erstellt und im Internet verbreitet wurden, gewährt dieser Artikel Einblicke in die Selbstdarstellung der Aktivistinnen, die sich für den Kampf zur Etablierung eines aus ihrer Perspektive idealen islamischen Staates einsetzten, welcher auf den Trümmern des syrischen Bürgerkriegs errichtet werden soll.

Ausstieg und Deradikalisierung
Modelle, Befunde und Implikationen
Von Michail Logvinov
Der Beitrag befasst sich mit der Post-9/11-Deradikalisierungsforschung, arbeitet relevante Modelle sowie Befunde heraus und formuliert praktische und theoretische Implikationen. Der Verfasser kommt unter anderem zu dem Schluss, dass die aktuelle Forschung methodische Innovationsimpulse, mehrfaktorielle Untersuchungen und einen intensiveren Wissenschaft-Fachpraxis-Dialog benötigt, um die jeweiligen Faktoren und ihre Wirkungszusammenhänge genauer zu eruieren.
(Ausführliches Literaturverzeichnis als PDF)

Das 3D-Zentrum Zürich
Eine international einzigartige Zusammenarbeit zwischen Forensik und Rechtsmedizin
Von Till Sieberth, Lars Ebert, Martin Wermuth, Jörg Arnold und Erika Dobler
Um Ereignisorte, Tatwerkzeuge, Fahrzeuge und lebende sowie verstorbene Personen dreidimensional zu dokumentieren und zu vermessen, wird vom Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich (IRM-UZH) sowie vom Forensischen Institut Zürich (FOR) eine grosse Bandbreite an verschiedenen bildgebenden Verfahren eingesetzt. Die ohnehin schon enge Zusammenarbeit wurde durch die Gründung des 3D-Zentrums Zürich (3DZZ) 2012 weiter vertieft und ausgebaut. Experten von IRM-UZH und FOR arbeiten seither zusammen an 3D-Rekonstruktionen und Visualisierungen, um Justiz und polizeiliche Ermittlungen bei der Klärung von Sachverhalten, Straftaten sowie Unfällen zu unterstützen. Ausserdem betreibt das 3DZZ aktiv Forschung im Bereich der dreidimensionalen Bildgebung und der virtuellen Realität (VR). Im nachfolgenden Artikel werden die verschiedenen Tätigkeitsbereiche mit Beispielen erläutert und ein Ausblick in die Zukunft der forensischen Bildgebung anhand von aktuellen Forschungsthemen geworfen.

Mobile Betäubungsmittelanalytik/Grenzen und Möglichkeiten
Replik auf die Veröffentlichung „Drogen in fünf Sekunden qualitativ und quantitativ analysieren – Mythos oder Realität?“, Coppey/Esseiva, Kriminalistik, 12/2020, S. 759 – 763
Von Christian Bogdal, Markus Schläpfer und Jörg Arnold
Ständige Entwicklungen auf dem Betäubungsmittelmarkt verlangen von den forensischen Laboratorien rasche Anpassungen der Analyseverfahren. Als Lösung für diese erhebliche Herausforderung werden vermehrt mobile Messgeräte propagiert, in der Hoffnung, Betäubungsmittelanalysen könnten gleich auf der „Gasse“ durch Frontkräfte erledigt werden und die Spezialisten im forensischen Laboratorium hätten damit freie Kapazitäten für schwierigere Fälle. Was in der Theorie vielversprechend klingt, erweist sich in der Praxis jedoch als verfängliche und gefährliche Strategie. Es ist essentiell, dass die Bediener von mobilen Anwendungen deren Möglichkeiten und Grenzen genau kennen und das nötige Fachwissen besitzen. Derart erzeugte Messergebnisse ohne weitergehendes und unabhängiges Analyseverfahren als Grundlage für strafrechtliche Sanktionen zu verwenden, beurteilen wir als fahrlässig. Negative Messergebnisse unbesehen als umfassende Entlastung einzustufen, birgt das Risiko, dass zahlreiche Straftaten unentdeckt bleiben. Damit die Fachleute im Labor die Entwicklungen auf dem Drogenmarkt fortlaufend mitverfolgen und den Bedürfnissen der Polizei rechtzeitig nachkommen können, darf die Laboranalytik in Zukunft nicht losgelöst an die Front ausgelagert werden! Im Gegenteil – die Zusammenarbeit zwischen Frontkräften und forensischen Laboratorien muss umso mehr intensiviert und aktiv gepflegt werden.



  


 

 

 

Kriminalistik Campus

Redaktion: Prof. Dr. Sigmund P. Martin, LL.M. (Yale), Hochschule des Bundes, Fachbereich Kriminalpolizei, Wiesbaden

Die seit Jahrzehnten andauernde, ausufernde Entwicklung der organisierten Kriminalität in Mexiko kann man in verschiedenen Thrillern und Dokumentationen, auf Homepages wie „Borderland Beat“ oder „Insight Crime“ und natürlich anhand vieler wissenschaftlicher Aufsätze aus dem Mittel- und US-amerikanischen Raum nachverfolgen. Damit mag ein Gefühl des „weit weg“ einhergehen, aber Lagebilder wie bereits der Europol-SOCTA-Bericht aus 2013 und Befunde investigativer Recherchen zeigen, dass mexikanische Kartelle längst auch den europäischen Drogenmarkt erobern wollen. Als Beispiel lassen sich die Ermittlungsergebnisse der italienischen „Operation Halcon“ anführen, die jüngst durch das OCCRP veröffentlicht wurden und die Erschließungsversuche neuer Kokain-Transitwege durch das Sinaola-Kartell belegen.
Hieran wird die aktuelle Relevanz des vorliegenden Aufsatzes deutlich, der sich im Schwerpunkt den Entwicklungsdynamiken mexikanischer Kartelle hin zu polykriminellen Unternehmen widmet und neben dem unmittelbaren Bedrohungspotenzial auch ein Beispiel für die idealtypische Weiterentwicklung von elaborierten Formen organisierter Kriminalität aufweist. Es handelt sich dabei um einen überarbeiteten Auszug einer Thesis, die im Bachelorstudiengang der Hochschule für öffentliche Verwaltung des Bundes – Fachbereich Kriminalpolizei beim Bundeskriminalamt (IZ31-HSB) – erstellt wurde Im Rahmen der Recherche wurde auch ein polizeilicher Experte befragt. Die Erkenntnisse aus diesem Interview finden sich im vorliegenden Artikel in indirekter Form wieder. Aus nachvollziehbaren datenschutzrechtlichen Gründen musste hier allerdings auf eine Benennung und direkte Zitation des Interviewpartners verzichtet werden.

Guntram Scheer, ORR, Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Kriminalpolizei, Wiesbaden

Das Phänomen Polykriminalität bei Organisierter Kriminalität
Mexikanische Drogenkartelle im Visier
Von Anna Welbertz, Kriminalkommissarin beim BKA, Wiesbaden

Frauen im Rechtsextremismus
Von Verena Fiebig, Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration Baden-Württemberg – konex, Stuttgart




 

  


 

 

 

Recht aktuell

 

Anforderungen an den Risikozusammenhang beim Raub mit Todesfolge
Der raubspezifische Zusammenhang beim Raub mit Todesfolge wird nicht unterbrochen, wenn die behandelnden Ärzte unter Berücksichtigung einer wirksamen Patientenverfügung rechtmäßig von einer Weiterbehandlung des im Sterben liegenden Raubopfers Abstand nehmen.
BGH, Beschl. v. 17.3.2020
3 StR 574/19

bb



 

  


 

 

 

 

Literatur

 

Der Klassiker
Kriminalistisches Denken, Hans Walder (†), Thomas Hansjakob (†), Thomas E. Gundlach, Peter Straub, 11. völlig neu bearbeitete und erweiterte Aufl., 2020, Kriminalistik Verlag C.F. Müller GmbH, Heidelberg, 464 S., Softcover, 28 Euro, auch als E-Book: 27,99 Euro

1955 erschien die erste Ausgabe des „Kriminalistischen Denkens“ im Kriminalistik- Verlag für kriminalistische Fachliteratur, Hamburg. Es handelte sich um ein kleines Büchlein mit 148 Seiten, und geschrieben hatte es der bis dahin noch recht unbekannte, 35-jährige schweizerische Jurist, Dr. Hans Walder, der später Bundesanwalt und Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht in Bern wurde. In seiner Einleitung lesen wir: „Die vorliegende Arbeit befasst sich (…) mit der intellektuellen Tätigkeit, mit den Denkleistungen, die derjenige ausüben bzw. vollbringen muss, der ein wirkliches oder vermeintliches Verbrechen aufklären will.“ Das Thema fand so großen Anklang, dass das Werk (ab der 3. Auflage immer auch aktualisiert und ergänzt) in den Folgejahren immer wieder neu aufgelegt und nach dem plötzlichen Tod von Hans Walder im Jahre 2005 durch den Schweizer Dr. Thomas Hansjakob bis zur 10. Auflage (2016) fortgeführt wurde. Hansjakob starb – ebenso unerwartet – Anfang 2018, und nun könnte man meinen, dass nach 65 Jahren doch wirklich alles zu diesem Thema gesagt ist. Und überhaupt: Braucht ein Kriminalist in diesen Zeiten überhaupt noch kriminalistisches Denken? Wird ihm das nicht längst von der Kriminaltechnik mit ihren immer besseren Nachweis- und Beweismöglichkeiten und der rasant wachsenden, viele Lebensbereiche automatisierenden IT abgenommen? Weit gefehlt. Kriminalistisches Denken ist nötiger denn je. Das neue Autorenteam, Thomas E. Gundlach, Kriminalistikprofessor aus Hamburg, der aber auch fast 20 Jahre Berufserfahrung in der Kriminalpolizei aufweist, und Dr. Peter Straub, Leiter der Staatsanwaltschaft Gossau (CH) mit Lehrauftrag an der Universität St. Gallen, schreibt in der Einleitung: „(…) das kriminalistische Denken ist die DNA des Kriminalisten.“ Das ist eine schöne Metapher, die ich so zum ersten Mal gelesen habe, und in der Tat, ebenso wie menschliches Leben ohne DNA nicht existieren kann, so kann ein Kriminalist oder eine Kriminalistin ohne kriminalistisches Denken auch nicht agieren und erfolgreich sein.
Ich möchte an dieser Stelle gar nicht detailliert auf die Inhalte des Werkes eingehen. Nur so viel: Auch bei den neuen Autoren ist die Grundstruktur des Werkes erhalten geblieben. Es gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil werden Aufgabe und Mittel des kriminalistischen Denkens behandelt. Dabei spielen Wahrnehmung, Systematiken, Logik aber auch der Zufall eine besondere Rolle. Im 2. Kapitel geht es um die Methoden, wobei dem Aspekt des Verdachts große Aufmerksamkeit geschenkt wird. Was ist überhaupt ein Verdacht? Welche Verdachtsarten gibt es? Wie schöpft man Verdacht? Daneben geht es um die richtige Bewertung und Analyse von Daten. Welche Hilfsmittel oder Konzepte gibt es, Fälle zu analysieren und zu bewerten? Und natürlich ist das kein statischer, sondern ein dynamischer Prozess, der mit Zyklus zutreffend beschrieben wird. Teil 3 beschäftigt sich schließlich mit dem Ergebnis, also auch mit der Frage, welche Beweise und Beweisarten es gibt, wie überhaupt etwas bewiesen werden kann und wie aussagekräftig Beweise sind.
Dabei ist der Inhalt keineswegs nur theoretischer Natur. Viele, auch viele neue Beispiele aus der Praxis veranschaulichen und beleben das Dargestellte. Das ist nicht nur erfreulich, sondern auch spannend, und man merkt, dass hier eben zwei erfahrene Praktiker schreiben. Gleichwohl genügt das Werk auch wissenschaftlichen Ansprüchen, denn neben einem umfangreichen Literatur- und Quellenverzeichnis (bisher immer nur Literaturauswahl) belegen die Autoren viele Angaben mittels eines Fußnotenapparats. Daneben wurde der Inhalt nicht nur aktualisiert und ergänzt, sondern auch deutlich erweitert (so finden sich z.B. Aussagen zu Hypothesenfehlern, Beweisgebäude, Spurenviereck, kriminalistischer Wabenanalyse, Investigative Cycle, Vernehmungspyramide, Vernehmungsuhr, SUE-Technik und den acht (!) goldenen ‚W‘). Insgesamt kommt das Buch auf beachtliche 464 Seiten und ist damit nochmal um über 110 Seiten umfangreicher als die Ausgabe von 2016. Neu sind auch einige Grafiken, die das Gesagte sehr gut veranschaulichen.
Dem Thema Fehlerquellen ist ein eigenes Kapitel gewidmet, und das führt mich zu meinem Anliegen, noch einmal ausdrücklich auf die generelle Bedeutung und Notwendigkeit des kriminalistischen Denkens hinzuweisen. Es kommt selbst in spektakulären Kriminalfällen immer wieder zu gravierenden (nicht nur auch handwerklichen) Fehlern bei den Ermittlungen. Woran liegt das? Mangelt es an Wissen? Fehlt es an Erfahrung? Hapert es an der Einstellung? Die Grundpfeiler für eine erfolgreiche kriminalistische Arbeit liegen in einer sehr guten Ausbildung, guten und engagierten Bärenführern (modern: Praxisanleitern) im Praktikum und der richtigen Einstellung zum Beruf und den Zielen. Dazu zählt auch die Bereitschaft, sich neues Wissen anzueignen und – open minded – dazu zu lernen.
Das kriminalistische Denken und damit dieses Buch setzen beim Wissen an, aber tatsächlich ist es mehr als das. Die behandelten Themen und die praktischen Beispiele zeigen, wie interessant und spannend der Beruf des Kriminalisten ist. Dabei richtet sich das Buch nicht nur an Polizei- und Kriminalbeamte, sondern auch an all diejenigen, die beruflich mit kriminalistisch relevanten Sachverhalten zu tun haben oder über solche urteilen müssen.
Fazit: Dieses Buch und ich füge hinzu: das kriminalistische Standardwerk gehört (nachdem es gelesen worden ist) in den Bücherschrank, besser auf den Schreibtisch, eines jeden, ernsthaften Kriminalisten/ Kriminalistin. Obiter dictum: 28 Euro für ein Fachbuch mit über 450 Seiten – ein Schnäppchen.

 

Wolfgang Sielaff, Vizepolizeipräsident a.D.


Verlag C.F. Müller

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